„Lebende Bilder“ zählten im 19. Jahrhundert zu den beliebten Unterhaltungsformen in Theatern, bei höfischen und bürgerlichen Festen sowie bei privaten Anlässen. Voraussetzung für die zunehmende Popularität „Lebender Bilder“ als gehobener Form der Unterhaltung in bürgerlichen Kreisen war die durch neue Drucktechniken möglich gewordene Ausweitung der Bildproduktion und der dadurch eröffnete Zugang zu Abbildungen aller Art in Kopien, Zeitschriften, Büchern und Bildbänden. (Im Buch 2. Aufl. dazu „Lebende Bilder als populäre Unterhaltungsform“ auf den Seiten 112 – 123.) So betont der Verfasser einer Anleitung zur Darstellung von „Lebenden Bildern“, dass er als Vorlagen nur solche Bilder gewählt habe,
„deren Originale oder Kopien meist in billigen Photographien leicht zu erhalten, oder welche in solchen Werken und Zeitschriften enthalten, die allgemein verbreitet und in den meisten Leihbibliotheken anzutreffen sind.
Namentlich haben wir bei Auszügen aus Prachtwerken solche gewählt, welche in den meisten kunstsinnigen Familien angetroffen werden dürfen und haben dabei Jahrgang und Seitenzahl wo die Bilder eingeheftet genau registriert.“ (Wallner 1895, S. 21)
Lebende Bilder – populär
Am Polterabend vor Effis Hochzeit wird die Holunderbaumszene aus Heinrich von Kleists historischem Ritterschauspiel „Käthchen von Heilbronn“ aufgeführt. (4. Kap.) In zwei anderen Romanen Fontanes, derer Handlung im selben Zeitraum angesiedelt ist, werden „Lebende Bilder“ ebenfalls erwähnt. Im Roman „Die Poggenpuhls“ bittet Sophie, die als Gesellschafterin auf dem schlesischen Gut ihres Onkels lebt, in einen Brief nach Berlin ihre Schwester Therese, ihr die Soiree bei Bronsarts zu beschreiben „und ob lebende Bilder gestellt wurden und welche“. (10. Kap.) In „Der Stechlin“ mokiert sich der alte Dubslav im Gespräch mit dem Pastor über den Ablauf geselliger Veranstaltungen, bei denen ein lebendes Bild gestellt wird, „wo ein Wilddieb von einem Edelmann erschossen wird“. (41. Kapitel)
Dass „Lebende Bilder“ in Mode waren, zeigt der Erfolg der Anleitung zu derartigen Darstellungen, die Edmund Wallner veröffentlichte. Bei der ersten, um 1870 erschienenen Ausgabe handelte es sich noch um die Zusammenstellung von „Vierhundert Sujets zu lebenden Bildern“. 1895 erscheint die vierte „bedeutend vermehrte und verbesserte Auflage“ mit tausend Vorschlägen zur Darstellung lebender Bilder. Der deutliche Zuwachs an vorgeschlagenen „Sujets“ , verweist dabei auf die Steigerung der gesellschaftlichen Bildproduktion.
„Ein Verzeichnis von mehr als tausend kleineren wie grösseren Genrebildern, historischen Gruppen und biblischen Tableaux, welche sich zur Darstellung im Familienkreise wie für grössere Gesellschaften besonders eignen. Mit genauer Angabe der Quellen und Maler sowie Notizen über Kostüme, Dekoration, Musikbegleitung, Zahl der zur Darstellung nötigen Personen und anderen praktischen Notizen.“
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Lebende Bilder – manchmal schwierig
Die Ardenne-Affaire mit Ehebruch und Duell hat nicht nur Theodor Fontane zu seinem Roman Effi Briest angeregt. 1896 erscheint Friedrich Spielhagens Version der Affaire unter dem Titel Zum Zeitvertreib als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Dies Blatt gehört der Hausfrau.
Im siebten und achten Kapitel dieses Romans beschäftigt sich eine Gesellschaft bei Frau Hauptmann von Meerheim mit den Vorbereitungen für den 60. Geburtstag des Ministerialdirektors Sudenburg. Geplant ist die Aufführung von „Lebenden Bildern“.
Im Handbuch Der Gute Ton in allen Lebenslagen wird auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die man für eine anspruchsvolle Darstellung von „Lebenden Bildern“ zu überwinden hat. Es heißt dort:
„Abgesehen von der Wahl des Bildes, ist auch das Stellen der Personen, die richtige Beleuchtung, die genaue Wiedergabe der auf dem Original befindlichen Gegenstände sehr schwierig und erfordert mehr oder weniger die Mithilfe eines Künstlers.“ (Ebhardt 1880, S. 440)
Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, hatte man in der Vorbereitungsgruppe entschieden, sich für die Planung der „Lebenden Bilder“ „auf den maßgeblichen Rat und die sachkundige Führung zweier, gleich ausgezeichneter, dem verehrten Sudenburgschen Hause gleich wohlgesinnter und befreundeter Künstler“ zu verlassen. (Spielhagen 1897, S. 58)
Wie es das Handbuch zu „Guten Ton in allen Lebenslagen“ empfiehlt, hatten beide Künstler als Vorlagen für die Darstellung „allgemein bekannte Bilder […], welche meist einen Gegenstand behandeln, der Jedem auf den ersten Blick klar ist“, ausgesucht. (Ebhardt 1880, S. 440) So begründet auch einer der Künstler seine Auswahl ganz im Geiste des Handbuchs:
„Also, meine Herrschaften, ich habe hier einen ganzen Packen Blätter, wie Sie sehen – alles Reproduktionen von Gemälden aus unsern letzten Kunstausstellungen. Die habe ich gewählt, weil sie noch in Erinnerung von aller Welt sind, oder doch sein sollten. Und ich habe immer gefunden, die Leute sind nicht dankbarer, als wenn man ihnen Sachen zeigt, die sie kennen. Darin sind sie wie die Kinder.“ (Spielhagen 1897, S. 61)
Allerdings, so der Ratschlag im Handbuch, sollte man für den Anlass passende Motive aussuchen, „auf einer Hochzeit z.B. wäre es unpassend […] ‚Gretchen vor dem Madonnenbild“ zu bringen.“ (Ebhardt 1880; S. 440)
Mit seinen Vorschlägen z. B. Darstellungen der „Pietà“ (Maria als Schmerzensmutter) als Vorlage für die geplanten Aufführungen bei der Geburtstagsfeier zu wählen, trifft der „junge Künstler“ mit seiner Begeisterung für „große Kunst“ nicht auf Gegenliebe – und verlässt wütend die gesellige Runde.
In dieser Hinsicht scheint es der ältere der beiden Künstler besser getroffen zu haben. Er geht davon aus, dass man dem Ministerialdirektor Sudenberg
„nicht leicht eine größere Freude bereiten können, als wenn wir die Vorwürfe zu den lebenden Bildern aus der Wunderwelt selbst unsers Dichterheroen entnehmen. Wenn Sie, wie ich mir schmeichle, so weit mit mir eines Sinnes sind, ahnen Sie auch bereits, daß ich in meinen Händen hier ein Exemplar der Prachtausgabe des Bruckmannschen Albums der Goetheschen Frauengestalten meines unsterblichen Meisters und Lehrers Wilhelm von Kaulbach – [habe].“ (Spielhagen 1897 S. 64)
Nun hat man zwar eine „überreiche Auswahl“, allerdings ergeben sich die unterschiedlichsten Schwierigkeiten, für die Umsetzung dieser Vorlagen in „Lebende Bilder“.
„Von dem Titelbilde will ich Abstand nehmen: der schwebende ‚Genius der Wahrheit‘ mit der Dichtung Schleier in der einen, dem Lorbeerkranz des Siegers in der andern Hand, dürfte in der Darstellung seine Schwierigkeit haben. – Auch von dem folgenden: dem köstlichen ‚Lotte-Bild‘ – wir möchten am Ende so viele Kinder nicht zusammenbringen. – ‚Dorothea und die Auswanderer‘ überschlage ich – das Ochsengespann, der Wagen mit der – ehem! Das geht natürlich in einem lebenden Bild nicht, so wundervoll es auch hier im Original ist.“ (Spielhagen 1897, S. 68 f.)
Spielhagen malt mit offensichtlichem Genuss an den komischen Effekten den Streit um die „Lebenden Bilder“ aus. Nicht zufällig legt der zweite Künstler der Gesellschaft die „Prachtausgabe des Bruckmannschen Albums der Goetheschen Frauengestalten“ vor, stammen doch die Erläuterungen zu den von Wilhelm von Kaulbach gezeichneten Bildern von Friedrich Spielhagen.
Letztlich entscheidet sich die Gesellschaft bei Frau Hauptmann von Meerheim gegen die Aufführung von „Lebenden Bildern“. Unabhängig davon, verweist dieser Abschnitt des Romans auf die Bedeutung von aufwendig illustrierten „Prachtwerken“ bei der Schaffung eines kollektiven Bildervorrats.
In einer Familienzeitschrift wie der Gartenlaube erscheinen immer wieder großformatige Illustrationen mit dem Hinweis, aus welchem „Prachtwerk“ sie stammen und bei den Buchempfehlungen für den Weihnachtstisch wird diesen Werke oftmals ein besonderer Platz eingeräumt.
„Damit schließen wir das Capitel der ‚Prachtwerke‘. Es bleibt uns nur der Wunsch auszusprechen übrig, daß es recht vielen unserer Leser vergönnt sein möge, das eine oder andere der hier genannten Werke auf seinem Weihnachtstische glänzen zu sehen.“ (Die Gartenlaube H. 50/1878, S. 836)
Anzumerken wäre noch, dass das Thema „Lebende Bilder“ einen besonderen Bezug zur Ardenne-Affaire hat, da die Aufführung „Lebender Bilder“ im Düsseldorfer Künstlervereins Der Malkasten für die Entwicklung der Affäre zwischen Elisabeth von Ardenne und dem Amtsrichter Hartwich offensichtlich eine wichtige Rolle gespielt hat.
Lebende Bilder – nur bedingt geschätzt
Beliebt und populär waren „Lebende Bilder“, aber nicht allseits geschätzt. In der Kunstkritik ist die Rede davon, dass diese Form der Unterhaltung keinen „ganz ungetrübten Genuss“ bereite.
„Während die bildende Kraft todtes Material vergeistigt und in der Malerei durch den Schein aus der Fläche einen Körper macht, setzt das Lebende Bild die menschliche Gestalt, das mit geistigem Inhalt erfüllte Individuum, welches in der höchsten Kunstschöpfung, dem dramatischen Kunstwerk, seine ihm gemässe Verwendung findet, zu einem leblosen Stoff herab und begeht dadurch eine Täuschung, indem es, den Darstellungsmitteln nach, ein dramatisches Kunstwerk verspricht und nur ein malerisches leistet. Der Übergriff einer Kunstart in das Gebiet der andern ist es also, was hier, wie überhaupt in der Kunst, den fein fühlenden Sinn nicht zu ganz ungetrübtem Genusse kommen lässt.“ (Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände, Conversations- Lexikon 11. Aufl., Leipzig 1868 – zitiert nach Koslowski 1996, S. 31)
Während Wallner sein Publikum in Kreisen sieht, „welche sich an schönem, künstlerischen Genusse erfreuen wollen“, und sich an „kunstsinnige Familien“ wendet (S. 21), klingt der Text, mit der die zweite Auflage von Wallners Buch in den Illustrierten Deutschen Monatsheften angekündigt wird, eher herablassend. Das Buch sei hilfreich für „Kreise“, die Vorlagen und Anleitung benötigen, um sich zu unterhalten.
Daß dieses Buch in zweiter Auflage erschienen, beweist, daß es noch solche Kreise giebt, in denen zwar das Bedürfnis vorhanden, sich bei lebenden Bildern zu unterhalten, die aber doch in sich die Mittel nicht finden, selbst zu erfinden und darzustellen. Diesem Theil der lebenslustigen Welt sei denn dieses Buch aufs Beste empfohlen. Man wird darin finden, wie der liebenswürdige Kaiser Karl V. Tizian einen Pinsel aufhebt, welcher dem Maler entfallen, oder wie von zwei Damen keine aus übertriebener Höflichkeit ins Zimmer eintreten will, oder auch wie Doré sich das Dornröschen eingeschlafen dachte. Jedenfalls verdient ein Verfasser Dank, welcher einer Gesellschaft tausend und einen Vorschlag zur Vertreibung der Langeweile macht. (Jahrbuch der illustrierten deutsche Monatshefte Bd. 42/1877, S. 166)
Unüberhörbar klingt in dieser Empfehlung für den Teil „der lebenslustigen Welt“ , „die in sich nicht die Mittel nicht finden, selbst zu erfinden und darzustellen“, ein bis heute bekannter Ton der Medienkritik an.
Lebende Bilder – aber mit Tradition (?)
Wallner verweist gleich in der Einleitung seiner Zusammenstellen von Vorschlägen für Darstellung von „Lebenden Bildern“ – vielleicht zur Entkräftung solcher Vorbehalte – auf die Tradition, in der die Darstellung „Lebender Bilder“ zu sehen sei, und führt dabei u. a. die Namen prominenter Künstler an. Dieses Thema greift er im Anhang mit der Verweis auf die Bedeutung „Lebender Bilder“ für die Passionsspiele in Oberammergau noch einmal auf. Wie es in einem Bericht aus dem Jahre 1890 heißt, werden die Handlungen des Passionsspiels jeweils durch ein „Lebendes Bild“ eingeleitet. (Rogge 1890, S. 334)
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Abbildungen
Abb. Lotte (Werther’s Leiden) – Kaulbach: The Goethe Gallery 1879, S. 11
Abb. Aus dem Passionsspiel in Oberammergau. Hoffnung auf das Heil des Kreuzes. Lebendes Bild – Rogge 1890, S. 633
Literatur
Ebhardt, Franz [1880]: Der gute Ton in allen Lebenslagen. Ein Handbuch für den Verkehr in der Familie, in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben. Berlin: Verlag von Franz Ebhardt
Koslowski, Stefan [1996]: Bürgerturner und Theater. Zur Basler Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 92 (1996), H. 1, 15-32
Rogge, Bernhard [1890]: Das Oberammergauer Passionspiel. In: Daheim Nr. 40/1890, S. 633 – 638
Spielhagen, Friedrich [1897]: Zum Zeitvertreib. Leipzig: Staackmann
The Goethe Gallery. From the original drawings of Wilhelm von Kaulbach [1879]. Boston: Houghton, Osgood and Company