Von Altardecken und Zimmergymnastik

Der Roman beginnt mit einer Beschreibung des „schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familien von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen“. „Frau und Tochter des Hauses“ sitzen im schattigen Fliesengang und arbeiten an einem aus „Einzelquadraten zusammengesetzten Altarteppich“. Für zeitgenössische Leser ist damit klar. Das Herrenhaus in Hohen-Cremmen ist schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts im Besitz der Familie. Als Grundherren waren die von Briest für die Kirche in ihrem Gebiet verantwortlich. Wenn die Frau des Hauses an einer Altardecke arbeitet, erfüllt sie damit eine Erwartung, die man an eine Kirchenpatronin stellt.

Altardecke

Teil der Altardecke Der Bazar Nr. 1_1885 S. 3
Teil der Bordüre einer Altardecke: Platt-, Stielstich-Stickerei und Holbein-Technik. Der Bazar 1885

Einerseits beteiligt sich Effi als Tochter an dieser durch Recht und Tradition festgelegten Aufgabe, andererseits zeigt sich in ihrem Verhalten der Einfluss des Zeitgeistes. Während sich die Mutter auf die Arbeit konzentriert, steht Effi von Zeit zu Zeit auf, „um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik durchzumachen.“

Aufschlussreich ist hier das Verhalten der Mutter, die immer nur flüchtig und verstohlen aufsah, „weil sie nicht zeigen wollte, wie entzückend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung mütterlichen Stolzes sie voll berechtigt war.“ Dies spricht für Liberalität bzw. Aufgeschlossenheit im Hause Briest. Blickt man auf die Diskussion über Gymnastik für Mädchen, wie sie in der Zeit, in der der Roman spielt, geführt wurde, dann scheint eine Mutter wie Frau von Briest mit ihrer Bemerkung, „Effi, eigentlich hättest du doch wohl Kunstreiterin werden müssen“, eher eine Ausnahme zu sein.

Zimmergymnastik.png Angerstein Eckler Titelseite 1890

Heil- und Zimmergymnastik wurde schon länger und mit hoher Resonanz propagiert. (im Buch 2. Aufl. dazu S. 240 – 245) Dafür spricht, dass die von Daniel Gottlieb Moritz Schreber 1855 zum ersten Mal veröffentlichte Anleitung „Aerztliche Zimmergymnastik“ 1890 bereits in 24. Auflage gedruckt wurde. Seine Überlegungen und Anleitungen zur Gymnastik ordnen sich ein in lebensreformerische Bestrebungen, mit denen die schädlichen Auswirkungen der Industrialisierung und Urbanisierung bekämpft werden sollten.

Schreber wendete sich mit seiner Anleitung zwar an „beiderlei Geschlechter und jedes Alter“, aber noch in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts besteht offensichtlich die Notwendigkeit, für Gymnastik und Bewegungsübungen für Mädchen und Frauen besonders zu werben.

Angerstein Eckler 1890 Rumpfbeugen vorwärts S. 20.png Angerstein Eckler 1890 Rumpfbeugen rückwärts S. 20 Angerstein Eckler 1890 Rumpfbeugen seitwärts S. 20

„Sollen denn auch Jungfrauen turnen?“ – „Lasset sie turnen! Turnen macht schön!“

Dieses rhetorische Frage-Antwort-Spiel steht am Ende der Rezension einer Anleitung zur „Haus-Gymnastik für Mädchen und Frauen“, die 1888 in der illustrierten Damenzeitung „Der Bazar“ erschien. Mit dem Hinweis auf die vielen Einschränkungen, denen Mädchen unterworfen sind, begründen die beiden Autoren der besprochenen Veröffentlichung, die Notwendigkeit sich besonders für die Gymnastik von Mädchen einzusetzen.

„Schon den jüngeren Mädchen ist es, zumal in den besseren Ständen, aus sogenannten Anstandsrücksichten untersagt, in fröhlichem Spiele zu jauchzen, zu laufen, zu springen, sich lebhaft zu drehen und zu schwenken. Und auch das Schulturnen, welches als Ersatz für solche Einschränkungen gerade den Mädchen in ausgedehntem Maße geboten werden sollte, ist viel weniger allgemein eingeführt und benutzt als bei den Knaben. Jungfrauen und Frauen aber haben fast gar keine Gelegenheit, den Körper angemessen zu üben. Ihre Spaziergänge sind kurz bemessen, die Bewegungen durch Sitte und Kleidung eingeengt, […].“ (Angerstein/Eckler 1890, S. 2)

Dementsprechend wird für die Gymnastik und körperliche Bewegung vor allem mit medizinischen Argumenten geworben.

„Für die Gesundheit des weiblichen Geschlechtes sind regelmäßig betriebene Leibesübungen von größter Wichtigkeit. Die so häufige Blutarmut und Bleichsucht und damit im Zusammenhang stehenden weiblichen Leiden, krankhafte nervöse Affektionen, Hysterie u. dergl. würden viel seltener werden, wenn die Gymnastik beim weiblichen Geschlecht mehr in Aufnahme käme. Eine angenehme Frische der äußeren Erscheinung, sichere, gerade Haltung, Anmut und Gewandtheit der Bewegung würden ein allgemeineres Gut der Mädchen und Frauen sein.“ (Angerstein/Eckler 1890, S. III)

Wie wichtig es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung immer noch ist, Vorbehalte gegen Leibesübungen von Mädchen zu entkräften, sieht man daran, dass die Autoren der „Haus-Gymnastik für Mädchen und Frauen“ ausführlich aus einem Gutachten der „Berliner medizinische Gesellschaft“ und aus einem „Ärztlichen Gutachten über das höhere Töchterschulwesen Elsaß-Lothringens“ ztieren. (Angerstein/Eckels 1890 S. 4 f.)

Der Rezensent Adolf Hermann, ein in der Turnerbewegung aktiver Braunschweiger Lehrer, unterstreicht den Wert der besprochenen Veröffentlichung durch den Hinweis auf eigene Erfahrungen, beispielsweise „in den weitbekannten Erziehungsanstalten für das weibliche Geschlecht im Schlosse zu Wolfenbüttel, wo von der Vorsteherin, Fräulein Vorwerk, die Einrichtung getroffen ist, daß die im Internate wohnenden Seminaristinnen täglich eine halbe Stunde systematische Turnübungen betreiben können.“ (Hermann 1888, S. 56)

Dabei ist aber nicht zu übersehen, dass die Förderung von Gesundheit, Anmut und Schönheit der Mädchen einem „höheren Zweck“ dient. Diese Ziele stehen nicht zuletzt im Dienste der Nation.

„Die Gesundheit kommender Geschlechter, die Zukunft eines Volkes hängt zum großen Teil von der Erziehung der Mädchen ab; denn die Mädchen sollen dereinst Gattinnen und Mütter werden, und als solchen liegen ihnen für die Heranbildung eines neuen Geschlechtes Pflichten ob, welche sie voll und ganz nur erfüllen können, wenn sie selbst gesund an Leib und Seele sind. (Angerstein/Eckler 1890, S.1)

Abbildungen

Vermischte Nachrichten – Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam Jahrgang 1845, S. 40

Teil der Bordüre einer Altardecke – Der Bazar. Illustrirte Damenzeitung  Nr. 1/1885, S. 3

Rumpfbeugen – Angerstein/Eckler [1890], S. 20

Literatur

Angerstein, E.; Eckler, G. [1890]: Haus-Gymnastik für Mädchen und Frauen. Eine Anleitung zu körperlichen Übungen für Gesund und Kranke des weiblichen Geschlechtes. Berlin: Hermann Paetel

Schreber, Daniel Gottlieb Moritz [1855]: Aerztliche Gymnastik oder System der ohne Geräth und Beistand überall ausführbaren heilgymnastischen Freiübungen als Mittel der Gesundheit und Lebenstüchtigkeit für beide Geschlechter, jedes Alter und alle Gebrauchszwecke. Leipzig: Friedrich Fleischer

Hermann, August [1888]: Gymnastik für Mädchen und Frauen. In: Der Bazar Nr. 48/1888, S. 526

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