Manches Klavier mit seinen weißen Tasten ist ein Denkmal der Rache, die der kluge Elephant für seine ausgerissenen Zähne am Menschengeschlechte nimmt. (Sirius 1892, S. 164)
Effi hat gelernt Klavier zu spielen, denn Klavierspielen trug zum „kulturellen Kapital“ der Töchter aus gutem Hause bei. Durch das Vorspielen vor Gästen leisteten die jungen Frauen einen Beitrag zur Verschönerung des Zusammenlebens und zum gesellschaftlichen Ansehen der Familie – und lenkten dabei das Interesse potenzieller Ehemänner auf ihre Person. Kritiker sprachen von einer Clavier- oder Musikseuche. (Zu diesen Kontroversen im Buch 2. Aufl. auf den Seiten 180 – 187.)
Die Belästigung durch lautes und unüberhörbares Klavierspielen in Mietshäusern bot Stoff für die satirischen Zeitschriften. Eine Anspielung hierauf findet sich in der Auseinandersetzung des Ehepaars Instetten über einen möglichen Wohnungswechsel in Kessin. Effi möchte aus dem ihr unheimlichen Haus ausziehen und argumentiert gegenüber ihrem Mann, dass man in Berlin aus nichtigeren Gründen die Wohnung wechsele.
„Ich habe, wenn wir Freunde und Verwandte zum Besuch hatten, oft gehört, daß in Berlin Familien ausziehen wegen Klavierspiel oder wegen Schwaben oder wegen einer unfreundlichen Portiersfrau; wenn das um solcher Kleinigkeit willen geschieht …“ (Kap. 10)
Diese hier von Effi angedeutete Gleichstellung der Belästigung durch Klavierspielen und „Schwaben“ – also Kakerlaken – mag heute befremdlich wirken, erforderte für die zeitgenössische Leserschaft des Romans, zumal wenn sie in Mietwohnungen lebten, keine weitere Erklärung. In dieser kulturkritisch aufgeladenen Diskussion über das Hammerklavier bzw. des Pianoforte ginge es aber nicht nur um die Lärmbelästigung. Wenn man so will, stand mit dem „Hammerklavier“ ein neues Medium zur Diskussion – und wie immer in ging es in solchen Diskussionen auch um kulturelle Verluste und befürchteten Niveauverlust, Fragen der Bildungsrelevanz und, wie nicht anders zu erwarten, um potenzielle gesundheitliche Gefahren.
Herstellung des neuen Mediums „Hammerklavier“
Den „endgültigen Sieg des Hammerklaviers“, also den Beginn seiner Karriere als neues Medium, führt der Soziologie Max Weber in einer 1921 erschienene Abhandlung auf „die maschinelle Großproduktion des Instruments“ zurück.
„Die großen Meister der modernen Klaviermusik, Johann Sebastian und Philipp Emanuel Bach, standen dem Hammerklavier noch neutral gegenüber, und speziell der erstere hat einen bedeutenden Teil seiner besten Werke für die tonlich schwächeren, aber intimeren und auf feinere Ohren berechneten älteren Instrumententypen: Clavichord und Cembalo geschrieben. Erst das internationale Virtuosentum Mozarts und das steigende Bedürfnis der Musikalienverleger und Konzertunternehmer, der großen Musikkonsumtion nach Markt- und Massenwirkungen brachten den endgültigen Sieg des Hammerklaviers. […] Zuerst in England (Broadwood), dann aber in Amerika (Steinway), wo das vorzügliche Eisen der Konstruktion der eisernen Rahmen zugute kam und die nicht geringen klimatischen Schwierigkeiten einer Einbürgerung der Klaviers – die ja auch seiner Verwendung in den Tropen entgegenstehen – überwinden helfen mußte, bemächtigte sich die maschinelle Großproduktion des Instruments. Anfang des 19. Jahrhunderts war es reguläres Handelsobjekt geworden und wurde auf Vorrat hergestellt. Der wilde Konkurrenzkampf der Fabriken und Virtuosen mit den spezifisch modernen Mittel der Presse, Ausstellungen, schließlich, nach Analogie etwa der Absatztechnik der Brauereien, Schaffung eigener Konzertsäle seitens der Instrumentenfabriken (bei uns namentlich der Berliner) haben jene technische Vollkommenheit der Instrumente zuwege gebracht, welche allein den stets steigenden Ansprüchen der Komponisten genügen konnte.“ (Weber 1972, S. 76)
Zugang zum neuen Medium „Hammerklavier“
Zum neuen Medium konnten die Hammerklaviere werden, weil durch die „maschinelle Großproduktion“ der Kauf von Klavieren für neue Bevölkerungsgruppen möglich wurde. Wobei die Erfüllung bildungsbürgerlicher Ambitionen auch durch das Mieten von Klavieren erleichtert wurde.
„In den sogenannten höhern oder gebildeten Kreisen galt Musik längst als unerlässlicher Theil der Bildung; jede Familie fordert ihn, wo möglich für alle Angehörigen, ohne sonderliche Rücksicht auf Talent und Lust, in gar vielen beschränkt sich, wenigstens für die weibliche Jugend, die ganze freiere Bildung, sogar die gesellige Unterhaltung nur auf Musik, neben der etwa noch ein Paar neuere Sprachen und eine höchst ängstliche und prüde gesichtete und beschränkte Lektüre Raum findet. […] Was im Kreise der günstiger gestellten ‚Gesellschaft‘ so begonnen, dem eifert, schon vom Beispiel von Unkunde von falschem Ehrgeiz bezwungen, unerschrocken und unberechnend die Menge nach; bis in die Kreise des Kleinhandels und Gewerks hinein wird der endlos drängenden Arbeitsnoth Zeit, dem knappen Erwerbe Geld abgelistet und abgerungen, um wenigstens für die Töchter Klavier Noten Lehrer Musikbildung zu erbeuten, vor allem in der Hoffnung damit zu den ‚Gebildeten‘ zu zählen.“ (Marx 1873, S. 88)
Zum neuen Medium konnte das Hammerklavier auch werden, weil das „ohnehin schon mechanische Klavier“ (Marx 1873, S. 282) im Vergleich zu anderen Musikinstrumenten für Anfänger leichter zu erlernen und bei Dilettanten eher zu irgendwie passablen Ergebnissen führte.
„Das Klavier […] liefert dem Spieler unabänderlich gestimmte Saiten, die durch die rechte Taste unfehlbar den verlangten Ton geben, erfordert also in Bezug auf Tonverhältnisse zunächst nur äusserliche Aufmerksamkeit auf den Mechanismus der Tastenbenutzung. Das Gehör kann aus dem Spiele bleiben, – und wie oft es vom Schüler und Lehrer aus dem Spiel gelassen wird, kann man nur zu häufig beobachten. Musik aber ohne Tonsinn ist leeres Handtiren mit fremdbleibenden Dingen.“ (Marx 1873, S. 223)
Ästhetische Bewertung des neuen Mediums „Hammerklavier“
Durch die „kapitalistisch gewordenen Instrumentenproduktion“ wurde das Clavichord vom Hammerklavier abgelöst. Für Max Weber war mit der Dominanz des neuen Mediums Hammerklavier ein ästhetischer Verlust verbunden.. Mit Blick auf das Clavichord schreibt er: „Seine rasch verhallenden Töne regten zur Figuration an, und so war es vornehmlich ein Instrument für eigentliche Kunstmusik. Die eigenartigen Klangeffekte des durch Tangenten, welche den tönenden Teil der Saiten zugleich abgrenzten und zum Schweigen brachten, angeschlagenen Instruments auf der Höhe seiner Vollendung, namentlich die charakteristischen ausdrucksvollen ‚Bebungen‘ der Töne haben es der Konkurrenz des Hammerklaviers erst dann zum Opfer fallen lassen, als nicht mehr die Nachfrage einer dünnen Schicht von Musikern und feinhörigen Dilettanten, sondern die Marktbedingen der kapitalistisch gewordenen Instrumentenproduktion über das Schicksal der Musikinstrumente entschieden.“ (Weber 1921, S. 90)
Andere Stimmen sahen im Hammerklavier dagegen einen Sieg des „selbständigen Virtuoseninstrument“.
„Ein jeder Vortrag moderner Klavierstücke überzeugt von der unendlichen Schattierungsfähigkeit, die der Ton des Hammerklaviers, ohne bei der Mechanik der Orgel Anleihen zu nehmen, besitzt. Ein jeder Blick in die inneren Geheimnisse des Klaviers enthüllt uns die Wunder von Vollendung, zu denen sich die Hammertechnik mit ihrer ‚Auflösung‘ und ‚Dämpfung‘ entwickelt hat. Denn wir sahen, daß die Geschichte des Klaviers nicht in einem konstanten Fortschritt besteht, sondern in stets erneuerten Versuchen, die bequeme Tastatur auf verschiedene, bereits vorhandene Saitenwerke anzuwenden. Der letzte dieser Versuche glückte derart, daß er schnell die Formen des Klavichords und Klavicymbels aus dem Felde schlug, das Klavier völlig von der Einwirkung der Orgel befreite und zu demjenigen emporhob, durch welches unsere ganze große schöne Klavierliteratur und ihr heilsamer Einfluß auf die Verbreitung musikalischen Sinnes erst möglich wurde.“ (Bie 1894, S. 618)
Pädagogische Einwände gegen (die Überbewertung) des Klavierspielens
„Von allen Künsten die gefeierste, weil sie eine Sprache spricht, die allen Menschen verständlich, ist die Musik. Und von allen Musikinstrumenten das beliebteste, das populärste und das am meisten mißhandelte ist das Klavier. Klavierspielen zu können betrachtet man heutzutage nahezu als eine Bedingung, um Anspruch darauf machen zu dürfen, für einen gebildeten Menschen zu gelten. Namentlich das weibliche Geschlecht in den höheren und mittleren Ständen schmachtet unter diesem Banne. Es giebt heute wenig Familien in diesen Gesellschaftskreisen, wo die Töchter nicht einander am Flügel ablösen, wie die Soldaten am Wachtposten, nur mit dem Unterschied, daß die letzteren keinen Lärm machen. […]
Die Musikseuche ist schuld daran, daß das Klavier nachgerade zu einem gemeingefährlichen Instrument geworden ist. Wer in einer größeren Straße wohnt, wird die Erfahrung gemacht haben, daß es durchaus nichts Seltenes ist, wenn man gleichzeitig unter sich, über sich, nebenan und zuweilen auch noch über die Gasse herüber Klavierspielen hört. […] Und es ist meine feste Überzeugung, daß die von den Aerzten konstatierte Ueberhandnahme von Nervenkrankheiten zum guten Teil in der gefährlichen Ausbreitung der Klavierepidemie ihre Ursache hat.
Nun ist es aber eine durchaus falsche Anschauung, zu glauben, daß das ‚Musikalisch-Sein‘ ein notwendiges Ingredienz wahrer Bildung sei. Denn einerseits kann man ein höchst gebildeter Mensch ein, ohne die geringste musikalische Ader zu besitzen, und andererseits kann man tiefes musikalisches Verständnis und Empfinden besitzen, ohne in eigener Person durch mehr oder minder dilettantische Musikmacherei dem lieben Nächsten das Leben zu vergällen.“ (Troll-Borostyàni 1894, S. 197)
Die medizinische Warnung vor dem neuen Medium „Hammerklavier“
„Klavierspiel. Man nennt es auch eine ‚moderne Seuche‘, da es in alle Schichten der Bevölkerung eingedrungen ist, und da es leider von Unbegabten ebenso gepflegt wird, wie von Begabten. Nervöse Personen werden durch übermäßige Ausübung derselben noch reizbarer, als sie schon sind; es ist daher nur mit Vorsicht zu üben und schwachen Mädchen mit erregtem Herzen, Blutarmut und Neigung zu starken Menstruationen ganz zu verbieten. Anders verhält es sich mit dem Singen. Mäßig betrieben kräftigt es den Organismus und leitet das Blut vom Becken ab. Man lasse also schwächliche Mädchen eher Gesangsunterricht nehmen, als Klavierspiel beginnen.“ (Fischer-Dückelmann 1911, S. 699f)
Abbildungen
Abb. Zur Klavierseuche. In: Fliegende Blätter Nr. 2260/1888, S.183
Abb. Verschnappt. In: Fliegende Blätter Nr. 2678/1896, S. 203
Abb. Einfachste Abhilfe. In: Fliegende Blätter Nr. 2329/1888, S. 144
Abb. Pianowerbung. In: Illustrirte Zeitung Nr. 1789/1877, S. 297
Abb. Verblümt. In: Fliegende Blätter Nr. 2296/1890, S. 29
Literatur
Bie, O. Die Geschichte des Klaviers. In: Daheim Nr. 38/1894, S. 615 – 618
Fischer-Dückelmann, Anna [1911]: Die Frau als Hausärztin. Ein ärztliches Nachschlagebuch der Gesundheitspflege und Heilkunde in der Familie. Stuttgart: Süddeutsches Verlags-Institut
Marx, Adolf Bernhard [1873]: Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Pflege. Methode der Musik. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 2. unveränderte Auflage
Sirius [1892]: Klavier Tasten Elefant. In: Fliegende Blätter Nr. 2466/1892, S. 164
Troll-Borostyàni, Irma [1894]: Wert und Gefahren der modernen Bildung. In: Der Bazar Nr. 18/1894, S. 197 f.
Weber, Max [1921]: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. München: Drei Masken Verlag